Inge Regnat-Ulner | Künstlerin

Raumreliefs für mehrere Sinne

Katalog-Vorwort von Eugen Gomringer (Auszüge)

Jedes Kunstwerk löst Synästhesien aus: Wahrnehmungen, die mehr als einen einzigen Sinn aktivieren. Dies gilt sicherlich auch für die meisten ausserkünstlerischen Gegenstände und Ereignisse; die bewusste und meist auch zielgerichtete Gestaltung von Kunstwerken – zielgerichtet im Selbstreferenziellen, nicht auf das Publikum – ist jedoch besonders geeignet, synästhetische Effekte auszulösen. Bekannt ist die Zusammenfassung von mindestens zwei Sinnen, wenn zum Beispiel „Klang“ und „Farbe“ zur „Klangfarbe“ werden.

Zur Sinnessphäre gehört jedoch auch die Denksphäre, insbesondere die Wortsphäre und damit auch der Wortsinn. Skulpturen oder „Raumreliefs“, die mehr noch als zweidimensionale Bilder für die Öffentlichkeit geschaffen werden, in die sie ja in der Regel hineingestellt sind, bieten Raum- und Leibsinne in einer Sinnesvielfalt. In den Werken der Bildhauerin Inge Regnat-Ulner, die sie „Raumreliefs“ nennt und die die früheren Wandreliefs seit 1988 ablösten, begegnet man einer Sinnesmannigfaltigkeit, die unmittelbar den Begriff der Sinnesthesie hervorruft, sie sind freistehend, in Stahl geschweisst und blau lackiert.

 

Die Künstlerin gibt Auskunft: „In den Stahlarbeiten wählte ich die Thematisierung und Auseinandersetzung mit dem griechischen Alphabet. Als Träger und Vermittler von menschlicher Entwicklungsgeschichte hat es eine vielfältige Wandlung erfahren, aus der ich eines der Stadien für mich herausnahm. In Anlehnung an das noch Bildhafte in ihm, wird es von mir frei variiert und in einer nicht zu engen Auslegung abstrahiert“. So entstand die erste Gruppe von Zyklen wie: BETA, GAMMA, DELTA, DIGAMMA, YPSILON usw. Die Farbe blau ist demnach nicht unterstützend eingesetzt zu Charakterisierung der Buchstaben-Individuen.

Die Anspielung auf Buchstaben und deren mehr oder weniger deutliches „Abbild“ und damit auf eine Erkennbarkeit, will weder von Seiten der Künstlerin noch von Seiten des Rezipienten das Aha-Erlebnis. Dazu ist das Thema trotz vielfacher Hinweise zu komplex und letztlich ist die Motivation der Künstlerin ihre sehr subjektive Entscheidung. Dem Betrachter, der von außen hinzu kommt, gehört das Erlebnis der Sinnessphäre und der Denksphäre und ihrer mannigfaltigen Synästhesien, der Grenzüberschreitungen und Verknüpfungen in mancherlei Richtungen. Einem zeitgemässen Verständnis des Konstruktivismus ist mit diesen Arbeiten ein neuer Anhaltspunkt gegeben.

Inge Regnat-Ulners konstruktive Metallarbeiten

von Dr. Pavel Liska

Es gibt zwei auffallende Charakteristika der Metallarbeiten von Inge Regnat-Ulner, die dem Betrachter auf den ersten Blick sofort ins Auge stechen – die ultramarinblaue Farbe und die klare geometrische Formensystematik, mit deren Hilfe die Metallflächen räumlich zueinander gesetzt sind. Bei einer tiefergehenden Betrachtung dieser plastischen Konstruktionen entdeckt man jedoch eine ganze Reihe zusätzlicher – zuerst formaler – Qualitäten die kunstgeschichtlich bedeutsam sind

– Die Dominanz der blauen Farbe wird oft mit kleinen Flächen im leuchtenden Gelb kombiniert – zwei Grundfarben, die im Neoplastizismus von Piet Mondrian eine entscheidende Rolle spielten.

– Es gibt kaum die Arbeiten bestimmenden Linien, die parallel verlaufen. Flache Eisen treffen spitz aufeinander, schmale Stäbe gipfeln in scharfen Spitzen, aus rautenförmigen Reliefflächen entstehen spitzwinklige Kanten. Der spitze Winkel war aber eines der Grundzeichen der kubistischen Formgebung.

– Bei einigen Plastiken steht die Reihung gleicher oder ähnlicher Formelemente im Vordergrund, eine gestalterische Methode, die im Minimalismus eine Grundrolle übernahm.

Die blaugelbe Verbindung ist nicht die einzige, die in Richtung des Neoplastizismus führt; es ist vor allem die asymmetrische Harmonie die Unregelmäßigkeiten, die bei der Betrachtung Inge Regnat-Ulners Arbeiten an Piet Mondrians moderne Ästhetik erinnert. Eine weitere Verbindung mit den Grundpositionen der Klassischen Moderne stellt die Künstlerin mit der Verwendung des bereits erwähnten spitzen Winkels her, der im analytischen Kusbismus eine zentrale Rolle im Aufbau des nichtperspektivischen Bildraumes spielte. Aber auch in den futuristischen oder rayonistischen „Darstellungen“ von Energie und Geschwindigkeit kam diese Grundform immer wieder zu Einsatz. Und nicht zu vergessen ist die Rolle der spitzen Formen in der Nachkriegsabstraktion des Informel, in dem mit Hilfe zueinander in scharfem Winkel laufenden Linien und Pinselstrichen ein abstrakter Bildraum definiert wurde.

 

All diese Bezüge zeigen in eine Richtung – in die des Konstruktivismus: Die klare geometrische Formsprache, die Reduktion der unendlichen Formenvielfalt auf einige grundlegende Elemente, die Reduktion der Farbskala auf die drei Grundfarben, das sind die grundlegenden Charakteristika des Konstruktivismus. In seiner extremen Fassung, dem Suprematismus von Kazimir Malewitsch, stehen dem Künstler drei geometrische Grundformen – Zeichen Ikonen – zur Verfügung: Quadrat, Dreieck und Kreis. Sie bilden „das abstrakte Alphabet einer konkreten Formensprache“. Und hier schließt sich der Kreis. Der allmähliche Ausschluss von allem Literarischen und Erzählerischen aus der bildenden Kunst, der als deren Befreiung verstanden wurde, führt am Ende zum Entstehen einer Bildsprache, die im Prinzip ähnlich funktioniert, wie ihre literarische Negation: Beide basieren auf abstrakten Zeichensystemen (Syntax), die erst durch Konventionen ihre allgemeine Bedeutung (Semantik) und konkrete Anwendung (Prakmatik) erleben. Allerdings verzichtet die bildnerische Sprache auf eine inhaltliche Verknüpfung.

Es ist also kein Zufall, wenn Inge Regnat-Ulner in ihren Arbeiten eine Brücke zwischen dem (abstrakten) griechischen Alphabet und der abstrakten Bildsystematik des Konstruktivismus schlägt, denn beide basieren auf ein und demselben Prinzip. Gleichzeitig wird über diese Brücke auch die ihr innewohnende Verbindung zwischen dem Formalen und dem Inhaltlichen aufgezeigt. Denn es ist eben das Alphabet, in dem vorerst rein abstrakte und bedeutungsfreie Zeichen durch Konventionen mit Bedeutungen fest verknüpft werden. Die Titel Alpha, Beta, Gamma, Delta, Epsilon, Ypsilon, die Inge Regnat-Ulner ihren Arbeiten gibt, zeigen, dass die Künstlerin mit ihren höchst abstrakten Formen das Medium der Kommunikation – die Sprache thematisiert. Mit ihren Arbeiten weist sie auf die Grundbasis aller visuellen Kommunikation hin und berührt damit das Archetypische unserer Zivilisation und Kultur. Die Verbindung zwischen der Systematik und des antiken, griechischen Alphabets und der modernen geometrischen Bildsprache des Konstruktivismus zeichnet die Entwicklungslinie der menschlichen Kultur nach.

In den Raum zeichnen

von Dr. Birgit Löffler (Auszüge)

Ihr Werdegang ist schlüssig und konsequent: Sie hatte sich vor ihrer Ausbildung in London umgesehen und studierte anschließend Bildhauerei in Paris und München. Schon währenddessen gelangte sie zum Kubismus der ein erster entschiedener Schritt war auf dem Weg zur Auflösung der Grenzen zwischen Fläche und Raum mit den Formelementen der Konstruktiv-Konkreten Kunst.

Ebenfalls noch während des Studiums wurde IRU auf die englisch-amerikanische Bildhauer-Avantgarde aufmerksam. Das waren allen voran David Smith in den USA und Anthony Caro in England. Als Gegenbewegung zum allgegenwärtigen Henry Moore hatten sie begonnen, mit Bändern und Flächen aus Metall zu arbeiten, die auch eine farbige Fassung nicht ausschlossen. Unter den Caro-Schülern der ersten Generation waren die mit IRU etwa gleichaltrigen Bildhauer Phillip King und William Tucker, die ihr im Ansatz näher standen als das deutsche Kunstumfeld. Während sie im Vergleich zu dieser englischen „Caro-Generation“ im Hinblick auf Motiv, Material und Farbe strenger und kohärenter wirkt, überrascht im deutschen Vergleich ihre Lebendigkeit.

Wenn z.B. das vergeistigende Blau mit Gelbgrün akzentuiert und konterkariert ist, wenn sie aus ihrem Formenkanon des griechischen Alphabets in die Musik ausweicht oder ein Schreibtischstilleben „Aus dem Quadrat“ zur konkreten Komposition abstrahiert.

 

Das eigentliche künstlerische Umfeld liegt also alles andere als nahe. Eugen Gommringer der Ästhetik-Theoretiker und Begründer der Konkreten Poesie – seine Kunstsammlung bildet den Grundstock des Ingolstädter Museums für Konkrete Kunst – hat an Inge Regnat-Ulners Werk das „zeitgemäße Verständnis des Konstruktivismus“ hervorgehoben.

Ihre Werke sind ohnehin nicht körperhaft voluminös, sondern bestehen aus schmalen Blechen, Stahlbändern, Winkeleisen, Vierkanteisen oder -rohren, in verschiedenen Winkeln geknickt oder aneinander geschweißt. In ihrer Linearität ähneln sie Schriftzeichen, und belegen damit, unabhängig von der Gesamtform, ihre Verwandtschaft zu Buchstabe und Schrift.

Inge Regnat-Ulners Kunst ist intellektuell und dennoch sinnlich, minimalistisch ohne Dogmen, sie ist kultiviert, musikalisch und spielerisch, sie ist unaufdringlich, aber dennoch konsequent und professionell. Diese Eigenschaften teilen die Arbeiten mit ihrer Künstlerin, und das macht sie – über ihre immanente Qualität hinaus – so authentisch. Heute gehört sie zu den namhaftesten Vertreterinnen der Konkreten bzw. Konstruktiven Kunst in Oberbayern.